Transformationen des Dokumentarischen, 2010

Foto: Bernhard und Michael Grzimek bei den Dreharbeiten zum Film Kein Platz für wilde Tiere, 1956 (Foto: OKAPIA); Textbild: Foto: Kamera (Foto: PublicDomainPhotos)

Das Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart lud am 18. und 19. März 2010 zu einer Tagung mit filmwissenschaftlichen Inhalten. Im Mittelpunkt stand die Entwicklung des dokumentarischen Films nach 1945. Sie war geprägt durch eine Reihe markanter Einschnitte und Umbrüche. Die Tagung zeichnete solche Transformationsprozesse des Dokumentarfilms nach. 

 

Der deutsche Dokumentarfilm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Mal war er eine politische Waffe, mal ein Mittel der Aufklärung, meist aber ein künstlerisches Instrument, das vermeintlich der Wahrheit verpflichtet ist. Zweifelsohne hat der Dokumentarfilm in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts viele Rollen erfüllt und viele Wandlungen vollzogen. Solche Transformationen beleuchtet eine namhaft besetzte Forschungsgruppe, die ihre Arbeit bei einer Tagung in Stuttgart aufnahm.

Die Frühjahrstagung des Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms war zugleich die Auftaktveranstaltung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Pilotphase des Forschungsprojektes zur Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland zwischen 1945 und 2005. In dieser Periode erfolgten zahlreiche stilistische und technische Umbrüche, die den Gegenstand, die Zuschauererwartung, die Theoriediskussion sowie das Selbstverständnis der Filmemacherinnen und Filmemacher veränderten.

 

Heute sind dokumentarische Formate und Inhalte in den verschiedensten Medien und in vielfältigen Ausdrucksformen zu finden. Den Dokumentarfilm mit Autorenhandschrift findet man hauptsächlich im Kino, zum Teil noch im Fernsehen, meist in Spartenkanälen. Daneben sind jedoch gerade im Fernsehen viele serielle Formate und Mischformen zu finden, die gar nicht mehr den Anspruch erheben, Dokumentarfilm sein zu wollen. Im Internet und in modernen Vertriebsformen der mobilen Gesellschaft finden sich weitere dokumentarische Formen, die jedoch bei der geplanten Filmgeschichte nur eine marginale Rolle spielen werden und können.

Die gut besuchte Tagung wurde von den meisten als eine gute Mischung aus Theorie und Praxis angesehen. Das vielfältige Programm bot viele Anregungen und es entwickelten sich daraus spannende, weitere Diskussionen. Dies gilt ebenso für die Forschungsgruppe, wobei einige von der Gruppe diskutierten Thesen zum Forschungsansatz und zur Definition des Dokumentarischen bestätigt wurden. Die Ergebnisse der Tagung werden auf dieser Seite dokumentiert. Den Anfang macht das Manuskript des Eröffnungsredners Prof. Dr. Klaus Kreimeier, der einige wichtige Fragen zur Konzeption einer Dokumentarfilmgeschichte ansprach. Im Folgenden ergaben sich Erkenntnisse zu verschiedenen Epochen des Dokumentarfilms, die in den folgenden Jahren der Projektarbeit immer wieder zum Thema werden sollten. 

Der Dokumentarfilm in den 1950er Jahren

In den 1950er Jahren dominierte der Kulturfilm überwiegend in 35 mm schwarzweiß gedreht das dokumentarische Feld. Als kurzer Vorfilm in den Lichtspielhäusern gezeigt,  knüpfte er thematisch, stilistisch und personell an den Kulturfilm des „Dritten Reiches“ an. Eine Zäsur stellten die 1960er Jahre da, als mit handlichen 16 mm-Kameras synchrone Tonaufnahmen möglich wurden. Auch in dieser Phase wurde der Dokumentarfilm bewusst im Schneideraum gestaltet und Material von 30 oder 40 Stunden zu einem Film kunstvoll verdichtet. Parallel war auch der Spielfilm, geprägt vom italienischen Neorealismus, der französischen Nouvelle Vague und dem Neuen Deutschen Film, einem starken realistischen Einfluss unterworfen. Man verzichtete immer häufiger auf Produktionen im Studio und drehte „on location“. Der Dokumentarfilm musste sich behaupten als Film, der der Wirklichkeit am nächsten ist und über Inhalte, soziale Fragen und die Entwicklung der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellte. Das DEFA-Dokstudio entwickelte einen eigenen Stil der behutsamen Beobachtung, kritische Fußnoten zwischen den Bildern zu erzählen und dem Anspruch, sich der gesellschaftlichen Realität schwarzweiß und auf 35 mm zu nähern. Das Fernsehen in Westdeutschland gewann an Bedeutung und suchte nach neuen Formen, die sich von der NS-Ästhetik abgrenzten und lieferte Vorläufer heutiger Reality-Formate. Das Fernsehen der DDR war ebenfalls Änderungen und politischen Strömungen unterworfen. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung sollte eine Filmgeschichte sich der Entwicklung in Ost- und Westdeutschland komparatistisch nähern. Wie fruchtvoll eine solche Arbeit sein kann, bewiesen mehrere Vorträge zu neuen Forschungsansätzen zum deutsch/deutschen Verhältnis.

Der Dokumentarfilm in den 1970er Jahren

In den 1970er Jahren wurde Film als Waffe gesehen und als Mittel der Aufklärung über die gesellschaftlichen Zustände, die es zu verändern galt. Ob Studenten- oder Frauenbewegung, Jugendkrawalle und Hausbesetzerszene, Ökologie oder engagierte Kämpfe gegen die Nachrüstung, die Filmemacherinnen und Filmemacher engagierten sich für gesellschaftliche Veränderung. Der Auftrag hieß eine Gegen-Öffentlichkeit gegen die etablierten, bürgerlichen Medien aufzubauen. Im Laufe der Zeit wurden die Bewegungen vereinnahmt. Einige der damaligen Videoaktivisten wurden anerkannte Filmemacherinnen oder Regisseure, unterstützt von engagierten Redakteuren in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, oder starteten eine akademische Karriere in der Film-Ausbildung. Filme entstanden unter festen Rahmenbedingungen, ließen jedoch auch das Vorurteil entstehen, Dokumentarfilm müsse langweilig und belehrend sein.

Der Dokumentarfilm nach 1989

1989/90 kam nicht nur die politische Wiedervereinigung, sondern durch die Etablierung des kommerziellen Fernsehsystems mit der stärkeren Orientierung auf Einschaltquoten und der Digitalisierung wurde ein Umbruch in vielen Bereichen vollzogen, die den Dokumentarfilm erneut nachhaltig veränderte. Mit der Serialisierung und Fiktionalisierung dokumentarischer Formate im Fernsehen wuchs die Bedeutung, des großen, oft mit internationalen Partnern koproduzierten, Dokumentarfilms im Kino. Die Zuschauerinnen und Zuschauer spürten eine Sehnsucht nach Authentizität, die ihnen das Fernsehprogramm trotz seines Programms rund um die Uhr nicht bot. Doch der Dokumentarfilm wurde auch etwas gefälliger. Er wurde professioneller produziert, legte mehr Wert auf die richtige Auswahl seiner Protagonisten, investierte in große Bilder und aufwändiges Sound-Design.

Wie spannend es sein kann, neue Sichtweisen und Herangehensweisen auf ein Spezialgebiet anzuwenden, bewies das letzte Panel zum sogenannten Gebrauchsfilm. Denn sie zeigten, zu welch außergewöhnlichen Ergebnissen man bei der Analyse von Subgenres kommen kann, die auf den großen Dokumentarfilm Einfluss haben. Von daher sollte das Projekt eine gewisse Offenheit haben und seinen Gegenstand des Dokumentarischen zwar eingrenzen, aber dabei periphere Entwicklungen und Strömungen nicht aus dem Auge verlieren.

 

Gefördert durch die DFG von 2010-2018

Hinweis: Das DFG-Projekt wurde 2018 abgeschlossen. Diese Projekt-Website spiegelt den Sachstand aus dem Dezember 2018 wider und wird seither nicht mehr weiter aktualisiert.

Publikationen, die im Kontext des Projekts entstanden sind, finden sich unter: edition.dokumentarfilmgeschichte.de